Aktuelle JudikaturEuGH zur Abgrenzung einer agressiven Geschäftspraktik
Eine Geschäftspraktik gilt als aggressiv, wenn sie geeignet ist, die Entscheidungs- oder Verhaltensfreiheit des Marktteilnehmers in Bezug auf das Produkt durch Belästigung, Nötigung oder durch unzulässige Beeinflussung wesentlich zu beeinträchtigen und ihn dazu zu veranlassen, eine geschäftliche Entscheidung zu treffen, die er andernfalls nicht getroffen hätte. Die entsprechende Regelung dazu findet sich im österreichen Recht im § 1a UWG als zweite kleine Generalklausel neben dem Irreführungsverbot im § 2 UWG und der großen Generalklausel der unlauteren Geschäftspraktiken im § 1 UWG.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat unter diesem Gesichtspunkt eine sogenannte Framing-Geschäftspraktik zu bewerten. Ein italienisches Gericht stellte die Vorlagefrage, ob eine Verhaltensweise, bei der aufgrund der Rahmung der Informationen („Framing“) eine Wahl als verpflichtend und alternativlos erscheinen kann, unter Berücksichtigung der damit verbundenen Irreführung per se als aggressiv angesehen werden kann. Dabei wurde einem Verbraucher ein Angebot für ein persönliches Darlehen und gleichzeitig ein Angebot für ein nicht mit diesem Darlehen zusammenhängendes Versicherungsprodukt unterbreitet. Allein die fehlende Bedenkzeit erfüllt hier allerdings nicht die Einstufung als jedenfalls aggressive Geschäftspraktik.
Dass zwei Angebote für gesonderte Leistungen gleichzeitig unterbreitet werden, obwohl zwischen diesen Angeboten kein rechtlicher Zusammenhang besteht, kann es allerdings laut EuGH erforderlich machen, dem Verbraucher zusätzliche Informationen zur Verfügung zu stellen, gerade damit nicht über das Fehlen eines Zusammenhangs zwischen den Angeboten getäuscht wird. Insofern ist es Sache des vorlegenden Gerichts zu prüfen, ob hier insbesondere eine Irreführung vorliegt.
So kann die Entscheidungsfähigkeit kann durch Beschränkungen wie etwa kognitive Verzerrungen beeinträchtigt werden. Der Begriff „Durchschnittsverbraucher“ im Sinne der UGP-Richtlinie ist unter Bezugnahme auf einen angemessen gut unterrichteten und angemessen aufmerksamen und kritischen Verbraucher zu definieren. Eine solche Definition schließt allerdings nicht aus, dass die Entscheidungsfähigkeit einer Person durch Beschränkungen wie etwa kognitive Verzerrungen beeinträchtigt werden kann. Damit steht die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken (RL 2005/29) der Europäischen Union einer nationalen Maßnahme nicht entgegen, die es einer nationalen Behörde erlaubt, nach der Feststellung, dass die Geschäftspraktik eines bestimmten Gewerbetreibenden „aggressiv“ oder ganz allgemein „unlauter“ ist, diesem Anbieter vorzuschreiben, dem Verbraucher eine angemessene Bedenkzeit zwischen den Zeitpunkten der Unterzeichnung des Versicherungsvertrags und des Darlehensvertrags einzuräumen, sofern es keine anderen Mittel gibt, die weniger in die unternehmerische Freiheit eingreifen und ebenso wirksam sind, um den aggressiven oder ganz allgemein unlauteren Charakter dieses Verhaltens zu beenden (EuGH 14.11.2024, C-646/22 - Compass Banca).
In der Beurteilung ist nicht nur auf den rationalen homo oeconomicus abzustellen, sondern bei einer wesentlichen Verhaltensbeeinträchtigung auch auf kognitive Verzerrungen. Es geht dabei auch um die Frage, ob beim Durchschnittsverbraucher die Erkenntnisse der Theorien über die begrenzte Rationalität zu berücksichtigen sind, wonach Personen bei ihrem Handeln die erforderlichen Informationen oft mit Entscheidungen einschränken, die im Vergleich zu denjenigen, die eine hypothetisch aufmerksame und kritische Person treffen würde, „unvernünftig“ sind. Diese Erkenntnisse können einen größeren Schutz für den in der modernen Marktdynamik häufiger auftretenden Fall der Gefahr kognitiver Beeinflussung erforderlich machen.
Laut EuGH soll die Bestimmung der Reaktion des Durchschnittsverbrauchers durch die Gerichte in Bezug auf eine bestimmte Geschäftspraktik „keine rein theoretische Übung“ sein, sondern es müssen auch realitätsbezogene Aspekte berücksichtigt werden. Im Bereich des Unionsmarkenrechts wurde schon entschieden, dass die Aufmerksamkeit je nach Art der betreffenden Waren oder Dienstleistungen unterschiedlich hoch sein kann. Außerdem kann eine falsche Wahrnehmung einer Information suggeriert werden. Die Feststellung, wie der Durchschnittsverbraucher in einem gegebenen Fall typischerweise reagieren würde, ist von den nationalen Gerichten zu treffen (EuGH 14.11.2024, C-646/22 - Compass Banca).Zurück zur Liste
Impressum | Suche | Newsletter | © Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb (2025)